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Alt 19.06.2018, 09:13   #56
Soso000
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Heute zufällig gelesen aus Cialdini: Psychologie des Überzeugens (gutes Buch)

"Andere Studien haben die Bedeutung des Prinzips der sozialen Bewährtheit für die «Apathie» von Zeugen untersucht. Dies geschah, indem sich geschulte Leute unter eine Gruppe von Zeugen eines fraglichen Notfalls mischten und so taten, als wäre nichts passiert. In einem Experiment beispielsweise, das ebenfalls in New York durchgeführt wurde (Latané & Darley, 1968a), erstatteten 75 Prozent aller einzelnen Beobachter, die sahen, wie Rauch unter einer Tür hervorkam, Meldung; beobachteten Dreiergruppen die gleiche Situation, wurde der Rauch nur in 38 Prozent der Fälle gemeldet. Am kleinsten war die Zahl der Zuschauer, die etwas unternahmen, jedoch dann, wenn man zwei der drei Beobachter vorher instruierte, den Rauch bewusst zu ignorieren; unter dieser Bedingung erstatteten nur 10 Prozent der Versuchspersonen Meldung. In einer ähnlichen Untersuchung, durchgeführt in Toronto, schritten 90 Prozent aller Beobachter, die einzeln Zeugen eines Notfalls wurden, helfend ein, aber nur 16 Prozent, wenn es noch zwei weitere Zeugen gab, die tatenlos zusahen (A. S. Ross, 1971).

Heute sind die Bedingungen, von denen es abhängt, ob Zeugen eines Notfalls helfend einschreiten, weitgehend geklärt. Erstens – und im Widerspruch zur Annahme, wir wären zu einer Gesellschaft von herzlosen und gleichgültigen Egoisten geworden – sind Hilfeleistungen sehr wahrscheinlich, wenn die Zuschauer davon überzeugt sind, dass tatsächlich eine Notfallsituation vorliegt. Unter diesen Umständen ist die Zahl derer, die entweder selbst helfend eingreifen oder Hilfe herbeiholen, beruhigend
hoch. In vier verschiedenen Untersuchungen in Florida beispielsweise wurden Unfälle inszeniert, an denen ein Wartungsmonteur beteiligt war (R. D. Clark & Word, 1972, 1974). Wenn deutlich war, dass der Mann sich verletzt hatte und Hilfe brauchte, leistete man ihm bei zwei Experimenten in 100 Prozent der Fälle Beistand. In den anderen beiden Experimenten, bei denen die Zuschauer, um zu helfen, zwei möglicherweise gefährliche elektrische Drähte berühren mussten, half man dem Opfer immerhin noch in 90 Prozent der Fälle. Unter diesen Bedingungen spielte es keine Rolle, ob die Zeugen den Vorfall allein oder in Gruppen beobachtet hatten.

Anders sieht es aus, wenn, wie in vielen Fällen, Zuschauer nicht sicher sein können, ob es sich bei dem Ereignis, das sich vor ihren Augen abspielt, um einen Notfall handelt. Dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Hilfeleistung sehr viel höher, wenn nur ein Zeuge existiert, als wenn es mehrere Zuschauer gibt, besonders wenn diese einander nicht kennen (Latané & Rodin, 1969). Anscheinend ist der Effekt der Pluralistic Ignorance, des kollektiven [189]Nicht-sehen-Wollens, in Gruppen von Fremden am stärksten. Da wir in der Öffentlichkeit gern charmant und souverän wirken und mit den Reaktionen uns unbekannter Leute nicht vertraut sind, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass wir in einer Gruppe von Fremden Anzeichen von Betroffenheit zeigen beziehungsweise richtig interpretieren. So kann es geschehen, dass ein Notfall nicht als solcher erkannt wird und das Opfer ohne Hilfe bleibt."
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