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Alt 09.08.2013, 10:00   #96
pibach
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Also für mich sicht das so aus, als würdest Du die Zusammenhänge gerne auf einen einfachen Nenner bringen wollen. "Pibach sieht das positiv", "die Kopten werden verfolgt", "der Isalmistmus ist das Hauptproblem", "Artikel 2", usw.. Das ist aber nicht so einfach subsumierbar. Ich hab meine Eindrücke geschildert und denke das beschreibt die komplexe Situation. Und ist ja auch konsistent mit den verlinkten Artikel in der Zeit, die erstaunlich gut beobachtet und feinsinnig die Lage darlegen. Dann haust Du Simplifizierung dazwischen. Verlinkst alarmistische Einzelberichte. Da kann keine konstruktive Diskussion aufkommen.

Wenn es Dir um die Lage der Kopten in Ägypten geht, das ist eine ganz eigene Geschichte. Da gibt es angebliche Religionsfreiheit, trotzdem viele Hürden, und nicht alle Berufswege sind offen, dennoch sind die Kopten sehr gut vernetzt und im Schnitt deutlich wohlhabender und wirtschaftlich sehr erfolgreich, was auch den Neid der Moslems hervorruft. Es gibt Anschläge und blutige Schlachten zwischen fundamenalistischen Gruppen, im Alltag gehen Kopten und Moslems aber völlig unbefangen miteinander um. Wenn Du da ein präzieses Bild skizzieren möchtest, ist all das zu berücksichtigen.

Ich denke jedenfalls nicht, dass die Revolution ursächlich religös geprägt ist, das ist eher ein indirekter Effekt. Man wollte schlicht die verkrustete Vetternwirtschaft von Mubarak wegbekommen, da boten sich die Muslimbrüder an, mangels Alternative. Klar, dass die den Artikel 2 dann nicht abschaffen, ist doch logisch. Die Presse macht daraus "Islamisierung" oder "Sorge um Religionsfreiheit". Unter der neuen Regierung fühlten sich radikale Gruppen ermutigt, Kopten bedroht, der Staatsapaarat hatte andere Sorgen und es kam vermehrt zu blutigen Auseinandersetzungen zw. den Religionsgruppen.

Diese Exzesse waren schlimm, aber repräsentieren M.E. nicht die Hauptströmungen im Land, das ist durchzogen von einem sehr starken Konsens zu Toleranz und Pragmatismus. Ägypten war unter Nasser ja auch schon mal auf dem Weg in einen säkularen Staat und das Militär ist auch für eine säkulare Trennung - allerdings noch mehr für Machterhalt und Sicherung ihrer Pfründe - und sind dann zur Ruhigstellung der zum Großteil in der Religion Halt suchenden Unterschicht diesen Kompromiss eingegangen. Muss man mal abwarten, wie sich diese Kräfte nun neu formieren.

Abgestraft wurden die Muslimbrüder nun auch nicht wegen zu islamistischer Tendenzen, sondern wegen der 3 Hauptgründe, siehe verlinkter Zeit-Artikel.

Ich sehe die Religiösität aber auch als ganz wesentlichen Faktor in dieser Entwicklung. Wenn man so will ist das vielleicht schon die tiefere Ursache der Probleme, halt nicht die unmittelbare. In Ägypten sind Moslems und Kopten z.T. sehr religionsverhaftet. Suchen die Lösungen in der Flucht zu Gott oder Allah, statt sie selber anzugehen. Schließen die Frauen weg, leben und arbeiten in reinen Männerwelten, das beschränkt die Lebensqualität und schafft unausgewogene Denkstrukturen sowie unversöhnliche Fronten in der Gesellschft. Ich sehe da allerdings keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Religionen. Hier in Ägypten ist halt der Islam die dominierende Religion, in anderen Ländern ist das andersrum und es entstehen analoge Probleme.

Der Islam hat allerdings bestimmte Phasen, die das Christentum durchlaufen hat (insbesondere die Aufklärung) nicht durchschritten. Die islamischen Staaten haben durchweg große wirtschaftliche Probleme, mal abgesehen von der Ausbeutung des Ölreichtums, oft zu hohes Bevölkerungswachstum, bleiben im Widerspruch mit Demokratie und Menschenrechten, und haben es bisher nicht geschafft, ein echtes gesellschaftliches Alternativmodell vorzustellen. Das ist vielen Ägyptern durchaus bewusst. Und ich sehe da das Internet als sehr starke Kraft der Aufklärung und Abkopplung von Dogmen. Ist nun die Frage, ob und wie sich der Islam an "die Moderne" anpassen kann, Ägypten ist da das Vorzeige-Experiment.
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